Montag, Juni 11

# 163

Okay, ihr wolltet die Briefe lesen.
Ich habe sie so geschrieben, wie ich sie schreiben würde, wenn ich mich heute umbringen würde. Was ich nicht vor habe.
Ich glaub, ich würde es abends machen, damit mich niemand vorher findet. Und weil es nachts still ist. Und dunkel. 
Ich würde mein Zimmer nicht aufräumen. Ich würde auch nicht die Daten auf meinem PC löschen. Wieso? Weil sie es dann vielleicht verstehen würden. Weil sie verstehen würden wie es in meinem Kopf aussieht und wieso das sein musste.
Ich würd mich nur vorher ausloggen. Und meinen Facebook-Account löschen. Die Leute sollen ja nicht mit einer Toten befreundet sein. 
Und dann würd ich mich auf mein Bett setzen. Ich würde Tabletten nehmen. Natürlich würd ich mich vorher schlau machen, wie viele ausreichen. Und dann würd ich noch einige mehr nehmen. Nur um sicher zu gehen. Und warum Tabletten? Weil ich für alles andere zu schwach bin. Das könnte ich nicht. Aber friedlich und schmerzlos einschlafen, ja das ist ein guter Weg um von dieser Welt zu verschwinden.
Und ich würde die Briefe neben mich legen. Alle handgeschrieben und in Umschläge gesteckt. Außer dem 1. Den würd ich offen auf die anderen legen, damit er das erste ist, was derjenige sieht, der mich findet.
Ja, irgendwie kompliziert find ich. Aber zum Glück hab ich das ja erstmal sowieso nicht vor. 
Hier eine Auswahl der Briefe:




Abschiedsbrief.
Richtig, dies hier ist ein Abschiedsbrief. Ich werde nicht wieder aufwachen. Manche sagen, dass Selbstmord feige ist. Für mich war es der einzige Ausweg. Ein einziges Mal in meinem Leben musste ich vollkommen egoistisch handeln. Ich habe das Leben einfach nicht mehr ertragen können.
Nein, keiner von euch hätte das vorher sehen können. Und es tut mir Leid, dass es euch jetzt so unverhofft trifft. Aber hätte ich euch vorgewarnt… dann hätte ich nicht mehr fliehen können.
Wovor fragt ihr euch? Vor mir selbst. Vor den Stimmen in meinem Kopf, die mir jeden Tag zugeflüstert haben, dass ich zu fett und zu hässlich und zu wertlos bin um weiter zu leben. Letztendlich trägt niemand die Schuld hiefür außer mir. Und niemand hätte es verhindern können. Ich habe nämlich mit niemandem darüber geredet. Wieso auch, als ob die unwichtigen Probleme von jemandem wie mir jemanden interessieren. Ich war es einfach nicht wert.
Ich habe an einige Leute Extra-Briefe geschrieben. An alle, denen ich noch etwas sagen wollte, es aber nie geschafft habe. Es wäre schön, wenn jeder Brief den Weg zu demjenigen findet, für den er bestimmt ist.
Es tut mir alles so unendlich Leid...

An meine Mama:
Es tut mir Leid, dich enttäuscht zu haben. Es tut mir Leid, dass ich es nie geschafft habe dich stolz zu machen. Und dass ich die manchmal Ärger bereitet hab. Dass du mit mir schimpfen musstest. Und es tut mir Leid, dass ich dieses Mal nicht mit meinen Problemen zu dir gekommen bin. Du hättest mir nicht helfen können und es hätte dich nur belastet.
Du machst dir immer zu viele Sorgen und fühlst dich für viel zu viele Dinge schuldig und verantwortlich.
Aber das bist du nicht. Ich will, dass du dir hierfür keine Schuld gibst. Du konntest es nicht wissen, du hättest nichts besser machen können.
Ich liebe dich und ich werde ab jetzt da oben im Himmel sitzen und auf euch aufpassen.

An meine Mädels:
Ihr wart mein Licht am Ende des Tunnels. Ja, das wart ihr wirklich. Wenn ich mit euch unterwegs war war alles gut, ich war glücklich. Und ich danke euch für alles. Ich bin euch so unendlich dankbar. Ohne euch hätte ich dem Ganzen vermutlich schon vor einem Jahr ein Ende gesetzt. Aber es war ein wunderbares letztes Jahr.
Mit euch befreundet zu sein hat mir viel bedeutet. Es war keine tiefe Freundschaft, nein. Deswegen konnte ich es euch nicht erzählen.  Ich konnte euch nicht um Hilfe beten. Ihr hättet es nicht verstanden. Ihr hättet nicht helfen können.
Und ich hatte Angst. Angst, dass ihr mich für einen selbstsüchtigen, aufmerksamkeitsgeilen Psycho haltet und nichts mehr mit mir zu tun haben wollt. Ich hätte das verstanden, doch wirklich. Vielleicht bin ich ja auch nichts anderes gewesen.
Aber ich hätte das nicht verkraftet euch als Freunde zu verlieren. Ich liebe euch.

An J, eine Freundin:
Du bekommst auch einen Extra-Brief. Nicht weil wir uns besonders nah standen, denn das war leider zum Schluss nicht mehr der Fall, sondern weil ich mir Sorgen um dich mache. Ich wollte mit dir persönlich darüber reden, aber ich habe mich nie getraut. Vielleicht, weil ich Angst hatte, dass mein Verdacht wahr ist. Vielleicht weil ich es nicht wahr haben wollte. Jara, ich habe Angst, dass du an einer Essstörung leidest. Es kann sein, dass dir das nicht bewusst ist. Aber glaube mir bitte wenn ich sage, dass dein Essverhalten krankhaft ist.
Du beklagst dich immer du wärst zu dick, auch wenn du für mich der Inbegriff von ‚Model’ bist. Du willst abnehmen, obwohl da schon nichts ist. Du fragst ob ‚das’ da an deinem Bauch Fett oder Muskeln sind. Du wolltest bei unserem Referat über Essstörungen unbedingt die Magersucht übernehmen. Wieso? Weil du dich damit auskennst. Weil du schon vorher Tage damit verbracht hast das Internet zu durchsuchen. Weil du diese Leute verstehst.
Habe ich Recht?  Ich bitte dich, tu mir einen Gefallen. Erfüll mir einen letzten Wunsch. Wenn ich Recht habe: Sag es den anderen. Und geh zu einer Therapeutin. Wirklich. Ich habe Angst, dass du so endest wie ich.
Wenn ich nicht Recht hatte, tut es mir leid, so von dir gedacht zu haben. Dann lautet mein letzter Wunsch von dir anders: Akzeptier endlich, dass du ein wunderschönes Mädchen bist.

An 'ihn':
Ich will dir danken, für alles was du mir gegeben hast. Für jeden gemeinsamen Moment. Jedes Mal hast du mir die Kraft gegeben etwas länger durch zu halten.
Ich wollte es dir erzählen, weiß du. Ich wollte dir erzählen, dass es mir schlecht geht. Und was ich vor hab. Warum? Weil ich dachte, du könntest es verstehen. Weil ich dachte, du könntest mir helfen. Weil ich dir irgendwie vertraut habe. Weil ich dich geliebt habe.
Aber ich habe es nicht getan. Ich habe mich einfach nicht getraut. Ich hatte Angst, du nimmst mich nicht Ernst. So wie du mir mal gesagt hast es wäre eine Modeerscheinung, dass sich alle Mädchen zu dick finden, nachdem ich dir erzählt hab, was ich von meinem Körper halte. Das war es bei mir nicht. Es war echt. Ich habe mich selbst so sehr gehasst, dass ich es nicht mehr ausgehalten habe.
Außerdem wollte ich es dir nicht erzählen weil ich das Gefühl hatte, dass meine Probleme unwichtig sind. Nichts im Vergleich dazu, was andere durch machen mussten/müssen. Ich wollte dir einfach nicht die Ohren voll jammern mit meinem Selbstmitleid.
Du hast mir gesagt, du würdest mich lieben. Das war so ziemlich mein größter Wunsch, musst du wissen. Und auf einmal ist er in Erfüllung gegangen. Ich konnte es nicht glauben. Ich wollte es nicht glauben. Es wäre zu schön, zu perfekt. Nein. Das war unmöglich. Mich kann man nicht lieben. Ich weiß nicht, ob du die Wahrheit gesagt hast. Aber du sollst wissen, dass ich es dir wirklich glauben wollte. Nur ich konnte nicht. Es tut mir Leid. Ich liebe dich.

An meine Stufe:
Ja, auch ihr bekommt einen Brief. Immerhin habe ich mit einigen von euch 5 Jahre meines Lebens verbracht, mit den anderen zumindest ein ganzes Jahr. Ich weiß nicht, was das hier bei euch auslöst, denn eigentlich habe ich keine Ahnung, wie ihr zu mir steht.
Einige von euch waren lange meine Freunde, andere kenne ich kaum. Ich will keinem von euch die Schuld darangeben, was passiert ist. Aber ich will euch zum Nachdenken bringen.
Vielleicht wisst ihr nicht mal, was ihr einigen Mitschülern an tut. Ich weiß es.
Es tut weh ausgelacht zu werden. Den Raum zu betreten und alle über dich reden zu hören. Es macht einen kaputt. Mich hat es kaputt gemacht.
Die wenigsten von euch wissen, dass ich in der Grundschule gemobbt wurde. Und einige werden sich jetzt denken, was das mit euch zu tun hat. Ich wird’s euch sagen: mein Selbstbewusstsein wurde damals mit Füßen getreten. Bis nichts mehr davon da war. Ich schwor mir, dass das nie wieder passieren durfte. Also überspielte ich das, was aus mir geworden war und es klappte. Von euch hat es keiner gewagt mich in den Dreck zu schubsen.
Aber es gibt welche in unserer Stufe, die nicht verschont werden. Ich muss zugeben, dass ich selbst nicht unschuldig war. Dass ich selbst oft genug verletzend geworden bin. Es war ein Schutzmechanismus, den ich mir angewöhnt habe. Angriff ist die beste Verteidigung. Aber das stimmt nicht. Es macht nur noch mehr kaputt.
Ich will, dass ihr versteht was schon ein abfälliger Blick oder eine dumme Bemerkung auslösen können. Und ich wünsche mir wirklich, dass ihr lernt respektvoll miteinander umzugehen. Lernt aus Fehlern, auch wenn es nicht eure eigenen sind.

2 Kommentare:

  1. Den Brief an meine Freunde würde ich genauso schreiben, und statt Mutter wäre es Vater bei mir.

    Ich denke ich kann es ein wenig nachvollziehen.

    Pass auf dich auf.

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  2. Die Briefe sind wirklich schön geschrieben (wenn man das so sagen kann), aber eine Sache hätte ich da noch: "[...] friedlich und schmerzlos einschlafen [..]"
    Ich glaube kaum, dass du mit Tabletten friedlich und schmerzlos einschlafen wirst.
    Dein Körper würde wohl extrem dagegen ankämpfen und das wäre ganz bestimmt nicht angenehm.

    Ich wollte total besoffen und auf Drogen im Winter einschlafen und erfrieren.
    Durch den Alk und die Drogen hat man ja nichts mehr gemerkt

    naja ...

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