Freitag, Oktober 28

# 23





"Mile, magst du auch was von den chinesischen Nudeln?" fragt mich meine Schwester. Ich sehe sie an, schüttel den Kopf. 
"Hast du heute überhaupt schon was gegessen...?" fragt sie weiter. 
Ich antworte ganz automatisch : "Ja, klar."
Meine Schwester hört nicht auf, sie bohrt weiter: "Ach ja, was denn?"
"Heute morgen, Brot und 'n Apfel..." Nicht.
"Ohaaa, übernimm dich bloß nicht. Wenn du so weiter machst verschwindest du irgendwann. Dann bis du so dünn, dass man dich nicht mehr sehen kann."
"Haha, jaa. Klar. Natürlich." Wer's glaubt. Ich wende mich ab, habe keine Lust darüber zu diskutieren ob ich was essen sollte, oder nicht.
Trotzdem setzt meine Schwester erneut an: "Ich mein das ernst..."
"Kannst du mich vielleicht mal in Ruhe lassen?" fahre ich sie genervt an. 
Jetzt mischt sich auch mein Vater ein. "Du, ich würd mir da keine Sorgen machen. Solange Mile Sport macht, kann's nicht allzu schlimm sein. Weil da wird sie 'n Nährstoffmangel ziemlich schnell merken. Das gibt nämlich so einen richtigen Leistungseinbruch..."
Ich verziehe mich, bevor meine Schwester doch noch was sagen kann. Gehe in mein Zimmer, ziehe mir Laufschuhe an. 
Als ich wieder runterkomme steht meine Schwester im Flur. Sie sieht mich entsetzt an, reißt die Augen auf. "Du willst doch wohl nicht..."
"Ich bin mit dem Hund raus!"unterbreche ich sie, schnappe mir die Leine und den Hund und verschwinde, um mir noch weitere Vorwürfe anhören zu müssen. 
Ich fange an zu laufen. 
Als ich endlich auf dem Waldweg bin kann ich meinen Hund von der Leine los machen. Ich laufe weiter, werde schneller, immer schneller. Ich schließe meine Augen, renne so schnell ich kann. Es ist, als würde ich fliegen, ich spüre kaum, wie ich den Boden berühre. Ich fühle mich so leicht, so unbeschwert. 
Dann  taucht eine Biegung vor mir auf. Ich werde wieder langsamer, komme nach Luft ringend zum Stehen. Meine Seite schmerzt. Ich habe das Gefühl nicht mehr einatmen zu können. 
Ein Gedanke schießt mir durch den Kopf. 'Lass es einfach. Versuch einfach nicht mehr zu atmen.' Einfach aufhören. Einfach. Haha, aufhören zu atmen ist einiges, aber bestimmt nicht einfach. Wenn es doch nur so wäre....
Ich setze mich auf eine Bank. Langsam, ganz langsam entspannen sich meine Lungen wieder, das atmen fällt mir leichter. 
Verdammt, was mache ich eigentlich? Wofür? Warum tue ich mir das hier an?
Ach ja. Um hübsch zu sein. Um dünn zu sein. Um endlich wieder in den Spiegel schauen zu können und dabei zufrieden zu sein. 
Ich steh auf, lauf weiter. Weiter. Weiter. Immer weiter.
Der Weg beschreibt eine Kurve. Ich sehe jemanden, rufe meinen Hund ran. 
"Ach, du bist's. Alles okay, ich hab dich nur nicht erkannt..." ruft mir die Frau zu, die mir entgegen kommt. Ich lass meinen Hund wieder laufen, sie ihren auch. 
"Oh, sportlich, sportlich heute."
"Jaa...muss auch mal." antworte ich. 
Sie mustert mich, sagt dann "Mensch, du hast aber abgenommen! Aber ordentlich. Hast 'n ganz flachen Bauch bekommen... Musstest du dich denn quälen, oder hast du einfach 'ne Ernährungsumstellung gemacht?"
Nein, ich bin immer noch fett, mein Bauch ist alles andere als Flach und ja, musste ich."Ehh... nee, ich hab nur 'n bisschen mehr Sport gemacht, weniger Süßkram gegessen und so.." erzähle ich ihr. Es ist mir unangenehm, wie sie mich ansieht. 
"Mhh na dann. Aber mehr willst du doch nicht abnehmen, oder? So wie jetzt ist gut, doch. Aber nicht noch mehr, oder? Sonst wirst du noch so ganz dürr. Dann hast du ja keine Figur mehr. So ist gut. Aber mehr willst du doch nicht runter, oder?!"fragt sie weiter.
Doch. Eigentlich schon. 5Kilo müssen es eigentlich noch sein.  "Nein, nein. Hatte ich nicht vor. Will nur mein jetziges Gewicht halten..."
"Dann ist ja gut. Aber sieht man sofort, dass du angenommen hast... Naja. Ich muss dann auch weiter. Tschüss!"
"Tschüss." Ich dreh mich um und laufe weiter, bleibe aber alle paar hundert Meter stehen, weil ich keine Kraft mehr habe. Mein Vater hatte Recht. Leistungseinbruch. 
Die letzten Meter lege ich so schnell ich kann zurück, jeder Schritt ist wackelig, meinen Laufrhythmus habe ich schon lange verloren. Endlich angekommen.Japsend lehne ich mich an unsere Hauswand. Mir ist schlecht, ich habe Angst auch nur einen Schritt zu wagen, weil ich befürchte mich übergeben zu müssen. Erst nach einer Minute traue ich mich die Tür aufzuschließen und ins Haus zu gehen.
Mit letzter Kraft schaffe ich es bis zur Dusche. Ich warte nicht bis das Wasser warm ist. Kalt rinnt es meinen Rücken herunter. Mein Gehirn setzt aus. 
Ich weiß nicht mehr, wo oben und wo unten ist.
Weiß nicht mehr, was richtig und was falsch ist. 
Weiß nicht mehr, was ich will.
Weiß nicht mehr, wer ich bin.
Weiß gar nichts mehr. 
Absolute Leere beherrscht für wenige Momente meinen Kopf. 
Dann beginnt der Krieg in meinem Kopf erneut. Der Kampf meiner Gedanken. Der Kampf darum, was ich will, warum ich es will, ob es richtig ist, was ich tue um es zu bekommen. Mein Kopf wird bestimmt vom Chaos, gleicht immer mehr einem Schlachtfeld. 
Wer wird gewinnen?
Ich weiß es nicht. 


2 Kommentare:

  1. ich würde auch so gerne hören, dass ich abgenommen hab. ich freue mich so unglaublich sehr für dich, dass es den menschen auffällt.
    und nein - lass dir nicht einreden, dass das ein leistungseinbruch war, jeder hat mal schlechte tage. ich bin sicher du schaffst es:*

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  2. Ich bin durch Zufall über deinen Blog gestolpert .. und man, ich muss sagen, die Art, wie du schreibst... unglaublich. Tiefgründig. Faszinierend. Ich finde es toll :)
    & mich freut's, dass man dir ansieht, dass du abgenommen hast (;
    So, da ich ja noch neu auf deinem Blog bin, habe ich direkt mal drei Fragen, die ich dir jetzt stelle, auch wenn ich gleich weiter lesen werde und die sich eventuell beantworten:
    1. Hast du eine kleine oder große Schwester?
    2. Wie oft in der Woche gehst du Laufen?
    3. Wie viele Kilo hast du (eventuell auch durchs Laufen) in was für einer Zeit abgenommen?
    Liebe Grüße ♥

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